MERVELDT-BRÜCKE

Wie berichtet, untersagte die Eisenbahndirektion Essen den Recklinghausener Strassenbahnen eine niveaugleiche Kreuzung der von Bismarck nach Horst und Osterfeld führenden Güterzugstrecke am Bahnhof Horst-Emscher (Nord). Der Bau einer Straßenbahnüberführung war deshalb unumgänglich.

INNOVATIVE BETONARCHITEKTUR

Von Anfang an favorisierten die Recklinghausener Strassenbahnen für die Brücke ein Betonbauwerk. Anders als Siemens & Halske und die Bochum-Gelsenkirchener Strassenbahnen, Betriebshöfe und Brücken klassisch aus Eisenträgern und Ziegeln errichteten, setzte der bautechnische Sachverständige des Kreises Recklinghausen und der Recklinhausener Strassenbahnen, Kreisbaumeister Schröder, schon früh auf Stahlbeton.

So hatte man 1909 bereits die Wagenhalle in Bottrop in Stahlbeton errichtet. Später folgten nach ähnlichen Bauprinzipien die Wagenhallen in Recklinghausen (1913) und in Buer-Hassel (1921). Ein wichtiges Referenzprojekt war der Betriebshof Eickel der Kommunalen Strassenbahn-Gesellschaft Landkreis Gelsenkirchen, den das Wiesbadener Unternehmen Dyckerhoff & Wiedmann 1907 als Betongebäude errichtet hatte, sowie der nahezu baugleiche, bereits 1905 mit Stahlbeton realisierte Betriebshof St. Peter in Nürnberg.

Die Brücke am Bahnhof Horst-Nord sollte ursprünglich als Kombination aus Betonrampen und ab einer Höhe von drei Metern aus sieben Meter langen Brückenplatten errichtet werden. In der Mitte sollte eine 18 Meter lange Brückenplatte die vier Eisenbahngleise der Staatsbahn überspannnen.

Im Rahmen des Ausschreibungsverfahrens schlug der Projektleiter der Frankfurter Firma Buchheim & Heister, Oberingenieur Färber, eine Kombination aus Rampen mit Rundbögen und einem 27 Meter breiten Mittelbogen vor. Ausschlaggebend dafür war der unter der Brücke bei Sondierungsbohrungen angetroffene Fliessand. Er hätte die Gründung einzelner Betonpfeiler erschwert.

Der Entwurf von Buchheim & Heister war nicht nur technisch überzeugend. Die neue Plan war auch ästhetisch ansprechend. Am Ende konnte sich das Frankfurter Unternehmen mit der innovativen Konzeption der Brücke im Ausschreibungsverfahren durchsetzen.

DREITEILIGE KONSTRUKTION

Die insgesamt 287,5 Meter lange Brücke wurde in drei Teilen errichtet: einer 136,5 Meter langen Rampe auf der Horster Seite, einer 121 Meter langen Rampe auf der Gladbecker Seite und einem über sogenannte „Kämpfer“-Gelenke eingebundenen, 27 Meter langen Mittelbogen. Am Scheitelpunkt wurde eine Durchfahrtshöhe von 6,6 Metern über der Schienenoberkante erreicht. Die Rampen wiesen eine Steigung von 1:20 auf. Ungewöhnlich war die Aufstellung der Oberleitungsmasten auf dem Baugrund neben der Brücke.

Die Belastungsprobe mit zwei zusätzlich beschwerten Straßenbahnwagen überstand die 1910 fertiggestellte Betonbrücke mit Bravour. Benannt wurde sie nach Felix Friedrich Graf von Merveldt (1862 – 1926). Er war zur Zeit des Brückenbaus amtierender Landrat des Kreises Recklinghausen. Der Ausbau des Straßenbahnnetzes im Vest Recklinghausen war auch sein Verdienst.

Das von der Bevölkerung eher als profan angesehene Bauvorhaben wurde in der Fachwelt mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Aus diesem Grund widmete die in Berlin verlegte „Deutsche Bauzeitung“ dem „Straßenbahn-Viadukt bei Horst-Emscher“ einen mehrseitigen Artikel, in dem insbesondere die Berechnungen zur Statik und zur Festigkeit des Betons diskutiert wurden (Deutsche Bauzeitung, Ausgabe 21 / 1910).

STILLLEGUNG UND ABBRUCH

Mit der Inbetriebnahme der nördlichen Horster Umgehungsstraße am 15. Juli 1952 wurde die Merveldt-Brücke überflüssig. Die Straßenbahn wurde aus der Gladbecker Straße herausgenommen und über die neue Wiesmannstraße, die Turfstraße und die Buerer Straße in den Ortskern von Horst geführt.

1953 wurde die in die Jahre gekommene Brücke von der Essener Bauunternehmung Sprenger & Co. abgebrochen. Als Herausforderung erwies sich dabei der 27 Meter lange Mittelbogen. Um die notwendige Sprengung zu ermöglichen, musste die Bahnstrecke zwischen Horst-Nord und Bismarck gesperrt werden. Damit dies den Güterverkehr nicht zu sehr einschränkte, wurden die Sprengung und der Abtransport der rund 180 Tonnen Eisenbeton auf einen Sonntag gelegt. Nach den Aufzeichnungen der Gelsenkirchener Stadtchronik war das am 14. Juni 1953.

MULMIGE GEFÜHLE

Der Volksmund gab der Merveldt-Brücke die Bezeichnung „Todesbrücke“, vermutlich, weil der eine oder andere Fahrgast auf der Brücke ein mulmiges Gefühl verspürte. Tatsächlich waren entsprechende Ängste wohl unbegründet.

Das Beitragsbild zeigt die Merveldt-Brücke auf einer Postkarte aus dem Jahr 1915 (Verlag Heinrich Koch, Essen – Sammlung Ludwig Schönefeld). Der auf der damaligen Linie „B“ eingesetzte Triebwagen stammt aus der von der Waggonfabrik Falkenried für das Westnetz der Recklinghausener Strassenbahnen gelieferten Erstausstattung.