Im Zusammenhang mit der befristeten Konzessionierung der Straßenbahnstrecken in Bochum, Wattenscheid und Gelsenkirchen hatten die Städte Gelsenkirchen und Bochum eine ganz besondere Klausel in die Verträge zur Genehmigung des Straßenbahnbaus eingearbeitet: das sogenannte „Heimfallrecht“.
Der Begriff „Heimfallrecht“ leitete sich vom um die Jahrhundertwende üblichen Wortgebrauch „heim-/zu-fallen“ im Sinne von „abtreten“ oder „übertragen“ ab.
Das Verkehrsunternehmen – damals im Besitz von Siemens & Halske – wurde verpflichtet, nicht nur eine Verzinsung des Anlagekapitals zu erwirtschaften. Mit dem Heimfallrecht war auch die Auflage verbunden, die baulichen Anlagen der Straßenbahnen (Strecken, Betriebshöfe und Kraftwerke) im Stadtgebiet und das auf den Stadtstrecken anteilig eingesetzte rollende Material mit Ablauf der Konzession unentgeltlich den Städten zu übertragen.
HOHE BELASTUNG
In Gelsenkirchen fielen der im Landkreis Gelsenkirchen liegende Teil der Strecken von Bochum nach Wanne, die Strecke von Wattenscheid nach Schalke sowie die von Gelsenkirchen ausgehenden Strecken nach Wanne, Bismarck, Steele und Rellinghausen unter das Heimfallrecht.
Wie belastend die Vereinbarung für den Verkehrsbetrieb war, beschreibt Dr. Ferdinand Schöningh in seiner 1911 veröffentlichten Dissertation: „Die Vertragsbestimmungen haben seinerzeit die Veranlassung gegeben, die Zentralen Bochum und Gelsenkirchen nicht weiter zu vergrößern, sondern neue Zentralen und Betriebsbahnhöfe in Gebieten zu errichten, in welchen das Heimfallrecht nicht bestand. So entstanden die Zentrale Buer (Landkreis Recklinghausen), die Zentrale Weitmar (Landkreis Bochum) und der Betriebsbahnhof Altenbochum (Landkreis Bochum).“
Als „Zentrale“ wurde seinerzeit ein Betriebshof mit Dampfkraftwerk bezeichnet.
Dass der Bau der neuen Betriebshöfe durchaus auch betrieblich vorteilhaft war, wird von Schöningh nicht erwähnt. So erforderte die extrem lange Strecke von Gelsenkirchen über Buer nach Horst einen zweiten Stützpunkt (Buer). Ein betriebliches Erfordernis für den Bau der Bochumer Betriebshöfe Weitmar und Altenbochum waren bis zur Fertigstellung entsprechender Straßenunterführungen die nur sehr eingeschränkt passierbaren Bahnübergänge der Staatsbahn im Zuge der Hattinger Straße (Bahnhof Bochum-Süd) und der Wittener Straße.
UNTERSCHIEDLICHE INTERESSEN
Nachdem die Städte Gelsenkirchen und Bochum selbst Aktionäre der Bochum-Gelsenkirchener Straßenbahnen AG waren, war das Heimfallrecht für sie vordergründig ein Vorteil.
Andererseits war seit 1908 mit dem RWE ein neuer Mehrheitsaktionär an der Aktiengesellschaft beteiligt, der Planungssicherheit erwartete.
Für die Amortisation von Investitionen in das Streckennetz war die Konzessionsdauer entscheidend. Bei den unter das Heimfallrecht fallenden Strecken waren das 25 Jahre. Die Konzessionen für die übrigen Strecken liefen demgegenüber je nach Strecke über 33 bis 60 Jahre.
Wie hätte man mit den Risiken des Heimfallrechts in den Innenstädten, insbesondere mit dem möglichen Verlust von Betriebshöfen und Kraftwerken, guten Gewissens in den Ausbau einer Außenstrecke investieren können?
LANGE VERHANDLUNGEN
Die Gespräche zwischen der Direktion der Bochum-Gelsenkirchener Straßenbahnen AG und den Städten wurden im März 1909 aufgenommen. Im Ergebnis verzichteten sowohl Gelsenkirchen als auch Bochum auf das Heimfallrecht.
Im Gegenzug wurde der Verkehrsbetrieb verpflichtet, das Liniennetz zu ertüchtigen und auszubauen. Darüber hinaus sollte an die Städte eine jährliche fest taxierte Entschädigung für die Straßennutzung gezahlt werden.
Die am 14. Dezember 1910 mit der Stadt Gelsenkirchen geschlossene Vereinbarung sah folgende Ausbauten und Ergänzungen vor:
– eine Strecke nach Hessler über die Wilhelminenstraße zur Moorkampstraße.
– eine Strecke über die Kniestraße nach Ückendorf und weiter nach Günnigfeld.
– eine Strecke über die Herzog- und Feldstraße nach Horst.
– eine Strecke von Schalke über Sutum nach Buer (bis 1. September 1926).
– zweigleisiger Ausbau von der Grenze Wattenscheid zum Schalker Markt.
– Führung der Strecke vom Stern über die Bismarck- und Kniestraße zum Bahnhof.
Die Städte übernahmen finanzielle Garantien für den Fall, dass sich die vereinbarten Projekte als unrentabel erweisen würden. Sie hatten zudem das Recht und auf Verlangen der Gesellschaft die Pflicht, am 31. Dezember 1929 die gesamten Anlagen zum Tageswert zu erwerben.
WICHTIGER IMPULS
„Rechtliche Hemnisse zur notwendigen Ausweitung der Verkehrsanlagen werden aus dem Weg geräumt.“ – So beschreibt die Bochum-Gelsenkirchener Straßenbahnen AG in ihrer Chronik aus dem Jahr 1996 den Erfolg der 1910 geführten Verhandlungen.
Auch für die Weiterentwicklung von Gelsenkirchen gab die Aufgabe des Heimfallrechts einen entscheidenden Impuls: Mit dem Ausbau des Straßenbahnnetzes konnte Gelsenkirchen seine Rolle als wirtschaftliches Zentrum stärken. Das erklärt, warum der Gelsenkirchener Beigeordnete und Stadtbaurat Schlüsselburg die Vereinbarungen zur Aufgabe des Heimfallrechtes auch noch über 15 Jahre später, in einer 1927 publizierten Monographie über Gelsenkirchen, im Detail beschreibt.
NICHT ALLES WURDE REALISIERT
Ein großer Teil der Gelsenkirchener Projekte erforderte den Bau neuer Straßen. In der Innenstadt betraf das den Ausbau der Ringstraße und die Neuanlage der Kniestraße. Die Direktverbindung nach Horst über die spätere Overwegstraße (zuvor Herzogstraße) und die Grothusstraße (zuvor Feldstraße) kam bis heute nicht zur Ausführung. Was von dem Projekt blieb, ist der breite Mittelstreifen der vierspurigen Schnellstraße.